„Politischer Stammtisch“ debattiert Ergebnisse der Bundestagswahl 2009

Entgegen der jüngst in einem Leserbrief geäußerten Klage, dass in vielen SPD-Ortsvereinen der Wetterau eine „substanzlose Ruhe“ herrscht, präsentierte sich der „Politische Stammtisch“ der SPD im Ortsbezirk Dorheim weder ruhig noch substanzlos. Im Gegenteil. Das historische Bundestags-Wahldebakel vom 27.9. beschäftigte zahlreiche SPD-Mitglieder aus Friedberg und Umgebung, die sich zu einer ersten Wahlanalyse versammelten und sowohl deutliche als auch konstruktive Kritik am Ergebnis und dessen Zustandekommen übten.

OB-Vorsitzender Dr. Klaus-Dieter Rack betrachtete zuerst die Resultate Friedbergs (22,3%; minus 12% zu 2005) und der Stadtteile im Vergleich zu den Ergebnissen in Hessen und im Bund. Es erwies sich erneut, dass über dem Landes- bzw. Bundesergebnis liegende Zweitstimmen-Resultate einzelner Ortsteile, wie z.B. in Dorheim (+3,5%), Bruchenbrücken und Ossenheim (je +2%), Einbrüche in den bevölkerungsstärksten Stadtgebieten – Kernstadt und Ockstadt – nicht ausgleichen können. Die Gesprächsrunde war sich einig, dass man hier die politischen Anstrengungen intensivieren muss.

Bemängelt wurde auch die Unvollständigkeit der in der WZ abgedruckten Urnenwahl-Daten der Stadtteile – so fehlten der Vergleich zu 2005, die örtliche Wahlbeteiligung und die Zahl der ungültigen Stimmen. Ein Manko ist zudem, dass die Briefwahlstimmen im Stadt-Wahlamt nicht ortsbezogen ausgezählt werden. Bei jeweils um die 10% Briefwähler ist somit kein exaktes Ortsergebnis möglich und jede Analyse über tatsächliches Wählerverhalten erschwert.

Laut Wahlforschern hat die SPD bundesweit 2,1 Millionen Wähler an die Nichtwähler verloren, 1,1 Mill. an die Linke, je 900.000 an GRÜNE und CDU sowie 500.000 an die FDP. Auch in Friedberg ist ein ähnlicher Trend der Wählerwanderung nach links bzw. zu den Nichtwählern gegenüber einer deutlich geringeren Bewegung nach Mitte-Rechts zu erkennen.

„Stammtisch“-Teilnehmer bewerteten den Wahlkampf als langweilig und wenig mobilisierend für die eigenen Wähler. Es seien weder die Leistungen der SPD-Minister in der CDU-SPD- Koalition angemessen herausgestellt noch eine überzeugende Wahlalternative zu Schwarz-Gelb aufgezeigt worden. Die Wähler mussten den Eindruck gewinnen, trotz aller Dementis sei das Wahlziel des Spitzenkandidaten Steinmeier doch letztlich die Fortsetzung der Großen Koalition als Juniorpartner von Kanzlerin Angela Merkel gewesen.
Bedenklich sei auch, dass die SPD bei Wählern bis 35 Jahren nur noch 17% Rückhalt hat; Arbeiter und Arbeitslose wanderten deutlich nach links oder gingen nicht mehr zur Wahl.

Die angeregte Stammtisch-Diskussion offenbarte auch, wie unterschiedlich die Bewertung der Ursachen des SPD-Niedergangs ausfällt. Vor allem die SPD-Spitze, aber auch Parteigremien bis zu den Ortsvereinen haben sich, so der Tenor, zu lange einer Erforschung der Ursachen verschlossen, obwohl während der Kanzlerschaft Schröders (1998-2005) bereits mehr als vier und nun noch weitere sechs Millionen Wähler der SPD den Rücken gekehrt haben. Hingegen erstarkten seither massiv die Linkspartei, aber auch die Grünen bei Wahlgängen. Auch hat sich die Zahl der Parteimitglieder seit 1998 fast halbiert (jetzt nur noch knapp um 520.000).

Die Diskussion etwaiger Gründe drehte sich um nach wie vor in der SPD strittige Themen: die seit 1998 erfolgten Steuervorteile für Unternehmen und Spitzenverdiener, die nach der Wahl 2002 erlassene „Agenda 2010“ mit den Hartz-Gesetzen, die markante Mehrwertsteuer-Erhöhung nach der Wahl 2005 (um 3% – trotz einer „Null-Kampagne“ der SPD im Wahlkampf) und die „Rente mit 67“, initiiert durch Arbeitsminister Müntefering (SPD).

Aber auch die Turbulenzen in Hessen 2008 um Ypsilanti, Walter und Co. und der umstrittenen Öffnung zur Linken sowie die Umstände der Entmachtung von Parteichef Beck haben der SPD weiteren Abtrag an ihrer Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit als Partei der sozialen Gerechtigkeit eingebracht und ebenso zu diesem historischen Wahl-Tief beigetragen.

Ob die jetzige Spitze der Hessen-SPD und auch der nun neu formierte Bundesvorstand geeignet sind, um die SPD aus der Krise zu führen, wurde zudem diskutiert. Die Gesprächsrunde betonte außerdem, dass die SPD ihren Platz in der veränderten Parteienlandschaft neu bestimmen und dabei ihre politischen Ziele klar und abgegrenzt zu anderen definieren muss. Die erforderliche Aufarbeitung der letzten 11 Jahre und die Neuentwicklung der künftigen Richtung aber muss sorgfältig und unüberstürzt geschehen.

Künftig wird es auch, so die ersten Signale aus Land und Bund, keine Tabuzonen in der Kooperation mit anderen Parteien mehr geben, Bündnisse sind allein über inhaltliche Schnittmengen zu suchen. Dabei wurde aber eine Reaktivierung von Personen, die sich im Jahre 2008 „politisch unglaubwürdig gemacht haben“, von der Runde klar abgelehnt.

Pläne der Hessen-Parteiführung unter Thorsten Schäfer-Gümbel zu einer „neuen Kultur des Dialogs“ zwischen Basis und Spitze zu finden wurden beim „Stammtisch“ ausdrücklich begrüßt, denn nur gemeinsam und mit dem ernsthaften Bemühen um neue Glaubwürdigkeit wird man aus der politischen Talsohle wieder herauskommen, auch wenn es ein langer, aber letztlich notwendiger Prozess werden dürfte.

Bericht wurde am 10. Oktober 2009 stark gekürzt in der Wetterau Zeitung abgedruckt.