
Als die politische Welt für die SPD zwischen Hessen- und Hamburg-Wahl noch intakt war, somit vor den beim Abendessen öffentlich gewordenen Überlegungen des Parteivorsitzenden Beck über eine Öffnung zur Linken, hatten die Friedberger SPD-Senioren (AG60plus) und Dorheims Sozialdemokraten bereits vereinbart, bei einem „Politischen Stammtisch“ am 14. März die Ergebnisse der Landrats- und Landtagswahlen 2008 zu analysieren und die politischen Perspektiven zu erörtern. – Aber dann kam eine politische Lawine ins Rollen, ein Führungs- und Richtungsstreit in Bundes- und Landes-SPD über das Verhältnis zur Linkspartei entbrannte, und am Ende stand ein gescheiterter Versuch Ypsilantis, durch einen Kurswechsel mit Stimmen der Linken zur hessischen Ministerpräsidentin gewählt zu werden.
„Noch nie war die Verfallszeit eines nach dem historischen Tief von 2003 sehr beachtlichen Wahlerfolgs der Hessen-SPD so extrem kurz wie jüngst erlebt“, bemerkte Dorheims SPD-Vorsitzender Dr. Klaus-Dieter Rack in seiner Einführung in die Gesprächsrunde.
Wie es in Hessen politisch weitergehen wird, sei momentan völlig ungewiss.
Dennoch wichen die rund 20 Interessierten im „Thüringer Haus“ zu Dorheim vom geplanten Vorhaben nicht ab und ließen Karl Heinz Mößer (AG60plus) eine von ihm erstellte Analyse der hessischen und Wetterauer Ergebnisse vortragen (siehe Foto: KH Mößer ganz links).
Joachim Arnold als Hoffnungsträger
Sehr erfreulich war der Sieg Joachim Arnolds in der Landrats-Stichwahl am 10. Februar, für den sich alle Wetterauer Sozialdemokraten stark eingesetzt hatten. „Joachim Arnold ist in dieser schwierigen Phase unser Hoffnungsträger in der Region“ stellte Mößer fest.
Die vom SPD-Landtagskandidaten Walter im Wahlkampf entfachte Regionalkreisdebatte, die von der CDU bis zur Stichwahl thematisiert wurde, bewerteten Stammtischbesucher als zur Unzeit angestoßen und als Ballast für Arnold, auch wenn sie sich letztlich nicht negativ auswirkte. Wahlentscheidend war, dass CDU-Kandidat Veith den Amtsbonus als Erster Kreisbeigeordneter nicht für sich nutzen konnte und als Ex-Bürgermeister von Butzbach gerade dort ein Wahldebakel erlebte, während Arnold in Wölfersheim ein Traumergebnis erzielte und auch von den Wahlempfehlungen der Grünen und Linken profitierte.
Wahlkreisergebnisse
Bei der Landtagswahl schaffte es die hessische SPD einen 20-Punkte-Vorsprung der CDU aus dem Jahre 2003 aufzuholen und durch einen beeindruckenden Wahlkampf, angeführt von der Spitzenkandidatin Ypsilanti, wieder „auf Augenhöhe“ zu gelangen. Die SPD legte in allen Altersgruppen bis 60 Jahre deutlich zu, insbesondere viele Jüngere (so z.B. junge Frauen bis 25 Jahre mit über 46%) votierten sozialdemokratisch.
Die Ergebnisse in den drei Wetterau-Wahlkreisen fielen für die SPD unterschiedlich aus: Lisa Gnadl gewann mit unermüdlichem Einsatz überraschend, wenn auch hauchdünn im Wahlkreis 27 (Ost-Wetterau). Dr. Matthias Görlach erzielte im Wahlkreis 26 (Nordwest-Wetterau) ein achtbares Resultat gegen Landtagspräsident Kartmann (CDU) und unterlag nur knapp.
Nicht zufrieden musste man im Wahlkreis 25 sein, wo der im SPD-Zukunftsteam als Innenminister vorgesehene Jürgen Walter seine öffentliche Ankündigung, das Direktmandat gewinnen zu wollen, nicht umsetzte. Im Wahlkreis 25 verbuchte die SPD bei Erst- und Zweitstimmen ihr schwächstes Wetterau-Ergebnis. „Angesichts des allgemeinen Aufwinds für die SPD, der Anti-Koch-Stimmung und gegen einen im Wahlkreis farblosen CDU-Kandidaten hätte für den SPD-Spitzenmann bei mehr Einsatz ein besseres Resultat drin sein müssen“, meinten etliche Diskutierende.
Künftige Regierungsbildung und massives Glaubwürdigkeitsproblem
Die bundes- und landesweit aktuelle, kontrovers und emotional behandelte Frage der künftigen Regierungsbildung in Hessen stand auch beim Dorheimer Politik-Stammtisch im Zentrum der Diskussion. Die Parteibasis schwankt erkennbar zwischen Verunsicherung und Verärgerung über die hausgemachten Führungs- und Richtungsprobleme der SPD.
Am Stammtisch war man der Ansicht, dass die SPD nun nach dem Debakel um eine handlungsfähige Mehrheit für Ypsilanti vor einem „massiven Glaubwürdigkeitsproblem“ steht. Die Partei habe es seit Jahren versäumt, ihr politisches Verhältnis zur Linken und zum Ex-SPD-Vorsitzenden Lafontaine zu klären. Hier sei nun dringender Handlungsbedarf.
Die SPD habe auch erst auf dem letzten Bundesparteitag auf soziale Verwerfungen der Agenda 2010 reagiert, die die Partei Millionen Wähler und Hunderttausende Mitglieder gekostet habe, wodurch die Linke nun auch im Westen erstarkte.
Zur Landespolitik wurde geäußert, dass man die ab 5. April nur noch geschäftsführende, mit einem 12%-Minus an sich abgewählte Regierung Koch nun mit Anträgen aus dem SPD-Wahlprogramm „vor sich hertreiben solle“. Die dafür nötigen Mehrheiten müsse man sich im Landtag suchen – und seien dort auch zu finden. Auf diese Weise könnte sich der von der SPD angestrebte Politikwechsel in Hessen doch noch allmählich vollziehen.
Darum hätte sich, so der Stammtisch-Tenor, die Hessen-SPD nach der Wahl und dem Nein der FDP von Beginn bemühen sollen. Der Partei wäre so ein Wackelkurs erspart geblieben.
Plädoyer für ein Mehrheitswahlrecht
Zuletzt diskutierte die Stammtisch-Runde auch über die Zweckmäßigkeit des bestehenden Wahlrechts. Die letzten Landtagswahlen in West-Bundesländern (Niedersachsen, Hessen, Hamburg) haben die Festigung eines Fünf-Parteiensystems offenbart. Damit wird, wie jetzt in Hessen, eine tragfähige Regierungsbildung jenseits der unpopulären Großen Koalition (CDU/SPD) immer schwieriger. Um aber die Regierungs- und Funktionsfähigkeit eines Parlaments zu gewährleisten, könnte ein Mehrheitswahlsystem für stabile Verhältnisse sorgen. Das heutige Wahlrecht ist ein Mix aus Mehrheits- (Erststimme für Direktkandidaten) und Verhältniswahl (Zweitstimme: Sitzverteilung nach Parteilisten). Beim Mehrheitswahlrecht würden nur Kandidaten gewählt, die in Direktwahl die meisten Stimmen erhalten – entweder mit einfacher oder absoluter (über 50%) Mehrheit. Sichere Listenplätze und eine Listen-Sitzverteilung gäbe es nicht mehr; somit müssten sich alle Kandidaten im Wahlkampf stark engagieren, da nur der Wahlkreissieger ins Parlament einzieht.
Kleinere Parteien wären dadurch zwar benachteiligt, aber sie besäßen auch nicht mehr das überproportionale Gewicht in Regierungen wie bisher. Es würden über kurz oder lang zwei große politische Lager mit stabilen Mehrheiten entstehen und „Regierungsprogramme könnten dann 1:1 umgesetzt werden“, so Theo Wendel (SPD Dorheim), der diese lebhaft debattierten Überlegungen einbrachte.
In Frankreich und Großbritannien z.B. funktioniert das Mehrheitswahlrecht, auch in Deutschland ist in der ersten Großen Koalition (1966-1969) die Änderung des Wahlrechts sogar schon einmal Gegenstand der Koalitionsabrede gewesen, wurde dann aber wegen Anbahnung der späteren sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt nicht umgesetzt, steuerte der zum Dorheimer Stammtisch aus Assenheim angereiste Christian Vogel bei.
Die Wahlrechtsdiskussion soll auch in die Parteigremien hineintragen, denn die Große Koalition besitzt eine Zweidrittel-Mehrheit, um ein Mehrheitswahlrecht einzuführen.
Bericht wurde am 22.3.2008 in gekürzter Form in der WZ abgedruckt.